Mittwoch, Dezember 05, 2007

Die unsägliche Après-Ski-Weihnachtsfeier

Betriebsweihnachtsfeiern können Kollegen einander näherbringen, gemütlich und sogar ein bisschen besinnlich sein. Es kann traumhaftes Essen und, wenn man einander mag, sogar gute Stimmung geben. Je nach Ausprägung der Individuen wird dann auch gern mal ausufernd gesoffen und gebölkt.

Weihnachtsfeiern können aber auch ganz große Scheiße sein. Zu diesem Thema kann wahrscheinlich jeder, der schon ein paar Jahre im Geschäftsleben steht, einen Schwank erzählen, so wie ich das jetzt tun werde.

Es kann auch laufen wie bei der Steuerberaterbude, in der ich vor Jahren mal ein halbes Jahr als Anwalt gearbeitet habe. Die überlegte sich im Jahre des Herrn 2005 nämlich etwas ganz Besonderes. Also für mich war das etwas Besonderes. Besonders peinlich nämlich, und mal wieder war es nicht mein eigenes Verhalten, das mir die Schamesröte ins Gesicht getrieben hat.

Man soll seine früheren Chefs nicht schlecht machen, und genau genommen tue ich das jetzt gleich auch gar nicht; denn erstens war ich dort als Freiberufler, zweitens taucht mein "Chef" in dieser Geschichte nicht auf, und drittens ist mir mit Anlauf egal, ob sich jemand wegen dieses Schwankes aus meinem Leben auf den Penis getreten fühlt. Denn -- so wahr mir der Gott helfe, an den ich ohnehin nicht glaube -- was ich berichten werde, ist nichts als die Wahrheit.

Die Steuerberaterkanzlei bestand aus etwa 30 Personen, hauptsächlich Steuerberatern und ihren Angestellten. Die Rechtsanwaltsschiene war winzig und eher schlecht als recht drangeklatscht, obwohl die im Grunde kein Steuerrecht machte. Das Gebäude, in dem die Kanzlei saß, lag im süßen Nichts zwischen Düsseldorf und Essen. Noch ein wenig ländlicher, und man hätte keinen Strom und kein fließendes Wasser mehr gehabt. Es war, als hätte man versehentlich ein Bürogebäude an eine Stelle gesetzt, wo in Wahrheit ein Strohschuppen geplant gewesen war.

Der mit Abstand lautstärkste Partner der Kanzlei war eine Art G. I. Joe. Sehr sportlich, ein Schrank von Kerl mit Meckifrisur und einem tief gefurchten Gesicht, das deutlich eher von Schlägerei als von Steuerberatung zeugte. Mit seinen kantigen Brillen, die alles nur noch schlimmer machten, sah er aus wie das Kind von Ilona Christen und einem Ork aus der Herr der Ringe-Saga.

Er zeichnete sich im Berufsalltag vor allem durch seine rüpelhafte Art aus, die wesentlich zur extrem hohen Fluktuation von Arbeitskräften in dem Laden beitrug. Wer dort arbeitete, war zu jung, alt oder gebrechlich um wegzuziehen, wegen eines Pflegefalls in der Familie an das Kaff gebunden oder masochistisch. Die anderen arbeiteten im Schnitt nur wenige Monate dort.

Es herrschte ein rauer Ton in der Kanzlei, und Teamwork war nicht ihre starke Seite. Niemand wusste, woran jemand anderes arbeitete, und Urlaubsvertretungen waren regelmäßig ahnungslos, wenn Mandanten während der Urlaubszeit ihrer Kollegen anriefen. So wenig alle über die Arbeit ihrer Kollegen wussten, so laut wurden sie dafür zur Sau gemacht. Anschisse vor versammelter Mannschaft hätten in der Tätigkeitsbeschreibung der Arbeitsverträge stehen können. Einmal machte Joe eine Azubi bei einer Betriebsversammlung in der Küche derartig runter, dass sie daraufhin heulend zu einer anstehenden Klausur fuhr. Man bewegte sich mit Anlauf im Bereich Strafanzeige.

(Semi-)Privat gab sich Joe dagegen, so wurde mir kolportiert, betont kumpelhaft, gönnerisch und lustig, zeigte seine Visage in allerlei Vereinigungen und schlug gern mal mit der Faust auf den Tisch, um die Witzigkeit der Situation unter Beweis zu stellen. Wer auch immer ihm Verhalten antrainiert hatte, war vorher bei Bismarck in der Lehre gewesen.

Im Verdacht, ihm diese miesen Manieren antrainiert zu haben, hatte ich schon damals seine Frau. Die sah nämlich nicht nur haargenau so aus wie er, sondern hatte ihm in Sachen schlechten Verhaltens auch noch eine Menge beizubringen. Während er immerhin noch die passenden Krawatten zum Anzug zu finden schien, gab sie sich mit Rollis in Fehlgrifffarben betont sportlich und leger. Ihr verhärmtes Gesicht auf dem sportlich trainierten Körper wurde von einer Nickelbrille geziert, die so tief saß, dass sie den Kopf heben musste, um geradeaus zu sehen, weswegen sie von Natur aus hochnäsig wirkte. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Bodybuilderin auf Anabolika, und ihr Körper war auch ähnlich unweiblich, aber total drahtig. Dazu kam ihre krächzende Stimme. Wenn sie sprach, schrie sie eher, um überhaupt einen Ton heraus zu bekommen.

Ihre Manieren waren mit Abstand die schlechtesten, die ich je erlebt habe. Das ist keine Übertreibung. Sie behandelte mich von Anfang an -- unabhängig von ihrem Blick -- mit einer Hochnäsigkeit und Grobheit, die zartbeseiteten Seelen augenblicklich die Pisse in die Augen getrieben hätten. Sie ranzte mich (und andere) ständig an, vermied dabei aber stets Blickkontakt und zwar auch dann, wenn ich in ihr Büro kam oder sie mit mir sprach. Sie drehte sich dann nicht einmal von ihrem Computer weg, obwohl sie mehr als 90° abgewandt war. Sie benutzte gern Sätze wie "Das is doch Scheiße!", natürlich auch dann, wenn sie nicht nur total Unrecht hatte, sondern mein Verhalten in Wahreit das einzig Richtige in der Situation gewesen war oder sie den Fehler selbst verursacht hatte. Wenn sie Letzteres tat, schrie sie am lautesten. Ich wunderte mich, dass sie noch keinen Herzinfarkt bekommen hatte. Der wäre nämlich den Mitarbeitern zu Gute gekommen.

Für den Rest der Geschichte nennen wir sie Gertrud.

Gertrud und Joe ließen regelmäßig im Erdgeschoss des Büros die Fetzen fliegen, stritten sich lautstark und machten Mitarbeiter zur Sau. Wir aus der Rechtsabteilung im zweiten Stock bekamen davon meist nichts mit, aber dass die Stimmung insgesamt ausgezeichnet war, merkte man schon, wenn man zum Kaffeeholen in den ersten Stock ging.

Ich war noch kein halbes Jahr dort; da kam die Ankündigung der Weihnachtsfeier per E-Mail herein. Gertrud kündigte an, dass wir dieses Jahr etwas Sportliches unternehmen würden. Uuuiiii, was für eine Überraschung. Seht her, ich bin total überrascht. Was genau die umwerfende Idee sein sollte, wurde erst noch geheim gehalten und erst am Tag der Feier verlautbart. Aber ich merke natürlich, dass meine verehrte Leserschaft schon jetzt vor Spannung zu bersten droht. Also will ich mal nicht so sein.

Die sportbetonte Weihnachtsfeier fand in der Jever-Skihalle in Neuss statt. Mit dem Bus sollten wir dorthin gefahren werden. Ich zog es aber wegen meiner starken Bindung zur Kanzlei vor, mit dem eigenen Auto zu fahren, um im Ernstfall Alkoholkranke ins Krankenhaus fahren zu können.

Die Skihalle ist ganz in Ordnung. Man kann meinetwegen darüber diskutieren, ob man unbedingt eine viel zu kleine Skihalle mit Kunstschnee bauen muss, in der eingefleischte Skifahrer sich eh nicht austoben können, aber das habe ich hier nicht vor. Skifahren in der Vorweihnachtszeit, na gut. Wir nahmen in der Bar also erst einen Vorglüher und liehen dann Skier und das ganze Gelumpe aus. Rauf mit dem Sessellift, runter, rauf mit dem Lift, runter, rauf, runter. Nun ja, ging schon.

Das anschließende Abendessen war auch in Ordnung. Warmes Buffet; das ließ ich mir schon gefallen. Ich saß als Außenseiter natürlich ganz nah bei den Partnern, auch Joe und Gertrud. Das ist die Arschkarte, die wohl immer an Betriebsneulinge geht. Aber auch das war noch auszuhalten. Ich hatte sogar das Gefühl, ich könnte die Nähe nutzen, um die Atmosphäre und den Umgang endlich etwas aufzulockern. Ist ja nicht so, als hätte es mir Spaß gemacht, jeden Tag Gertruds Launen ausgesetzt zu sein. Vielleicht würde sie mich, wenn sie mich besser kennen lernte, etwas höflicher behandeln. Oder wenigstens freundlicher. Die Hoffnung stirbt als Letztes.

Das dicke Ende kam aber erst noch: die Après-Ski-Party, die in der Halle jede Woche am Freitag- und am Samstagabend stattfindet. Genau mein Ding; was Besseres kann mir an Musik nicht passieren. Ich stehe ohne Gnade auf Wolfgang Petry und DJ Ötzi.

Gott allein weiß, warum ich mich dazu habe breitschlagen lassen, das Auto stehen zu lassen und Alkohol zu trinken. So stand ich jedenfalls irgendwann angetrunken in der Menge von etwa 25 Leuten aus der Kanzlei, umspült von der beschissensten Musik, die Menschenohren je vernommen haben, gepeinigt von einem Feten-DJ, der Geburtstage und allerlei anderen sinnfreien Scheiß durchsagte, genervt und gelangweilt von allem anderen. Après-Ski-Party eben.

An dieser Stelle sei mir noch ein kurzer Exkurs erlaubt, den ich immer erzählen muss, wenn das Thema auf Après-Ski-Partys kommt. Wir reisen dafür zurück ins Jahr 1999, in dem ich einst meinen Geburtstag feierte. Die Party war totale Gülle gewesen, weil fast alle abgesagt hatten. Der Traum eines jeden Gastgebers also. Und die paar Gesichter, die dann doch da gewesen waren, hatten sich schnell verzogen. Amalia -- ja, ganz richtig, meine Mitbewohnerin! -- erzählte etwas von einer Après-Ski-Party, die irgendwo in der Nähe in einer WG stattfände. Mir war nach der misslungenen Party ziemlich egal, wohin wir gingen; also ging ich mit.

Die Party dort war musikalisch aber ziemlich genau so unerträglich, wie ich das auch damals schon vermutet hatte, und deshalb verduftete ich auch bald wieder. Amalia blieb noch eine Weile, und irgendwann müssen die Gastgeber nach einer Après-Ski-CD gesucht und mich im Verdacht gehabt haben, die CD gestohlen zu haben. Sie kannte mich damals schon gut genug, um zu wissen, dass ich so eine CD niemals mitnehmen würde, auch nicht für Geld. Und das sagte sie den Jungs auch.

Après-Ski-CD, au au au.

Jedenfalls stand ich also dann auf der Party in der Skihalle, eingequetscht zwischen den ganzen Kanzleimitarbeitern und beschallt von DJ Ötzi und seinen Freunden. Die Musik war unerträglich laut, und jeder Unterhaltungsfetzen kotzte mich an, weil ich fast bei jedem Satz nachfragen musste und die Antworten immer undeutlich oder zu laut waren. Auch wenn ich mit den Mitarbeitern nicht viel zu tun gehabt hatte, kannte ich die meisten schon vom Sehen.

Irgendwann fiel mir auf, dass ein Typ in der Menge stand, der nicht zu uns gehörte. Das war auffällig, weil wir alle beieinander standen. Sein Outfit war extrageil. Er war etwa 1,90 groß, trug ein schwarzes Hemd mit diagonalen orangenen Streifen, die obersten drei Knöpfe offen, zeigte Brusthaaretoupé und Goldkette, hatte eine Hornbrille auf und eine ordentliche Schenkelbürste unter der Nase. Er sah aus wie eine Parodie auf Sascha Hehn in den Zeiten, in denen er noch Sexfilme machte. Und weil das so war, er direkt neben mir stand und ich schon einiges getrunken hatte, um den Mist auszuhalten, lallte ich irgendwann mit halb offenen Augen zu ihm hoch: "Hiiier, du bis ja geil! Pornobalken, Brusthaartoupé und Goldkettchen. Dich ham se ja wohl original ausm Porno rausgeholt!"

Er sah mich von oben an und erwiderte laut und deutlich: "Noch ein Wort, und ich brech dir das Nasenbein."

Ich begriff, dass er sein Aussehen nicht als Spaß verstand, sondern das Outfit völlig ernst gemeint war. Ich öffnete Mund und Augen weit genug, um den "Wooooww"-Laut wie von selbst herauslaufen zu lassen, und machte dabei mit beiden Händen und weit abgespreizten Fingern mehrere Versuche, Luft in seine Richtung zu schieben. Ganz klar: Hier herrschten andere Sitten, nicht der lockere Umgang, den ich aus Köln gewohnt war.

Aber auch wenn das jetzt nicht glauben mag: Der Höhepunkt des Abends kam erst noch, und ich werde die große Gertrud-Einleitung nicht umsonst gemacht haben. Die stand nämlich auch irgendwann mal in meiner Nähe. Ich hatte mir nicht genug Mühe gegeben, es zu vermeiden. Sie hatte auch schon ordentlich gebechert, und ich hörte sie in der Entfernung immer wieder mit ihrer furchtbaren Stimme krächzen.

Irgendwann stand sie mir gegenüber und krächzte mich an. Jedes Wort eine Qual; sie schrie geradezu, und weil sie schon angetrunken war, war ihren Worten auch inhaltlich nicht mehr viel zu entnehmen. Ich tat mein Bestes, um diplomatisch und höflich zu bleiben, aber sie tat wiederum ihr Besten, meine Bemühungen zunichte zu machen. Und dann ging's los:

"Hää Stiegler", schrie sie mich an, "sind Sie homosexuell?!?"
Was auch immer sie das anginge. Aber wer fragt, soll's hören.
"Ämmmmm jaa? Ö wieso?"
Und da überschlug sich ihre Stimme geradezu und ließ bei meinen Ohren die Sicherungen rausfliegen: "Wieso hamm se das denn nich gesaaaaaagt?!?"
Mein Blick muss eine deutliche Mischung aus Schmerz und Fassungslosigkeit gewesen sein.
"Weil keiner gefragt hat?"

Die deutliche coolere Antwort wäre natürlich gewesen: "Wieso haben Sie mir denn nicht gesagt, dass sie eine Frau sind?" Aber so etwas fällt einem immer zu spät ein. Jedenfalls konnte es nur wenige Gründe geben, warum sie eine derart dumme Frage stellen konnte. Entweder sie hatte gerade viel Geld in einer Wette verloren, dass ich hetero sei, oder insgeheim Pläne geschmiedet, Joe zu verlassen und mich geile Sau zu heiraten. Zweites kann ich sogar gut verstehen.

Aber als wäre die Unterhaltung nicht an dieser Stelle schon auf einem Niveau angekommen, an dem nichts mehr zu retten war, gab sie sich auch damit noch nicht zufrieden, sondern war offensichtlich dann erst richtig in Schwung gekommen. Sie begann eine kaum enden wollende Tirade von Vorwürfen, wie unmöglich ich mich allgemein und ihr gegenüber im Büro verhielte. Nicht nur weil meine Ohren wundgescheuert waren, sondern auch um ihr und mir diese unsägliche Pein zu ersparen, fragte ich sie, ob wir dieses Thema vielleicht besprechen könnten, wenn wir beide wieder nüchtern sind. "Jaaa guut", krächzte sie schrill, "aber dann direkt am Montagmorgen!" -- "Ja okay, können wir machen."

Den Rest des Abends klang diese Schreiunterhaltung noch nach; ich konnte nicht fassen, was Gertrud getan hatte. Sie hatte Stillosigkeit neu definiert, ganz abgesehen davon, dass alle ihre Vorwürfe völlig Stuss waren und sie sich die Realität ganz unglaublich zurechtgebogen hatte. Diese Weihnachtsfeier war ein Paradebeispiel dafür, wie man es auf gar keinen Fall macht, und auch wenn ich heute davon erzähle, treibt es mir eine Schamesröte ins Gesicht, die für Gertrud bestimmt ist.

Um die Geschichte abzurunden: Am darauf folgenden Montagmorgen hatte ich einen Gerichtstermin und konnte deshalb nicht zu ihr gehen, bin danach aber mal zu ihr hin und hab sie gefragt, wann wir denn mal das Gespräch führen wollten, das ihr auf der Party so wichtig gewesen war. Sie zählte allerlei Scheiß als Ausrede auf, warum das jetzt ginge. Sie kniff den Schwanz ein.

Und ich verstand sehr gut. Ich wäre an ihrer Stelle gern im Erdboden versunken.

Ich war insgesamt sechseinhalb Monate in dieser Drecksbude. Eine wertvolle Erfahrung allerdings; vielleicht nicht so schlecht als Berufseinstieg.

2 Kommentare:

kai hawaii hat gesagt…

Sehr schöne Geschichte!
Süsse Weihnachten wünsche ich Dir!

Anonym hat gesagt…

Hey Pöt,
kann mich nicht erinnern, jemals einen so langen Text in irgendeinem Block mit Freuden durchgelesen zu haben... Danke für die nette Ablenkung vom eigentlichen Schreibtischkram!
Da sieht man mal wieder, wie wertvoll völlig widerliche Begegnungen letztlich doch werden können...