Mittwoch, Juli 09, 2008

Das Hartmut-Wochenende in London

Übers Wochenende war ich in London, meinen Punkt abholen und – natürlich viel wichtiger – Hartmuts Geburtstag feiern. Er wollte an seinem Geburtstag nicht in Berlin sein, und da summierte ich kurzerhand einen Städterennenpunkt und ein tolles Wochenende mit ihm.

Am Samstagmorgen ganz früh ging’s los. So früh, dass ich natürlich nicht dazu kam, zu Hause zu frühstücken, sondern als erste Aktion am Flughafen zu McDonald’s ging und mir dort zwei Cheeseburger reinpfiff, und zwar auf dem Weg von McDonald’s zum British Airways-Schalter. Die bieten ja ab 24 Stunden vor Abflug auf ihrer Webseite Online-Check-in an; find ich gut. Ging auch alles reibungslos. Ich hatte nur meinen prall gefüllten Bundeswehrrucksack; darin meine Freitag-Tasche für die Stadtbummel. Die kleinen Gleitgelpacks sollten ja gerade noch durch die Sicherheitsschranken kommen, mutmaßte ich.

Noch kurz bei Starbucks ein Stück Marmorkuchen eingeworfen und ab zur Security. Die junge Dame fragte mich als erstes: „Haben Sie Flüssigkeiten dabei?“ Und ich antwortete wahrheitsgemäß: „Nur kleine Gleitgelpäckchen.“ Sie lachte verlegen. Ich hatte erfolgreich das „Du kommst auch noch dran“-Gefühl vermittelt. Natürlich interessierte am Sicherheitscheck keine Sau mein Gleitgel.

Der Flug mit der ersten British Airways-Maschine, in der ich saß, war abgesehen von ein paar Turbulenzen ereignislos. Diese Schütteleien brachten mich jedoch einem messbaren Unwohlsein erstaunlich nahe. Ich vermute, das lag an dem fiesen Ham-and-Bacon-Sandwich, das man uns kurz vorher kredenzt hatte. Und natürlich an der Tatsache, dass ich alter Gierlappen wieder einmal wahllos Fraß in mich hineingestopft hatte.

Ich kam in London-Heathrow am Terminal 5 an, das erst seit ein paar Monaten benutzt wird. Das muss, sagte man mir, in der Vergangenheit immer wieder für Negativpublicity gesorgt haben, weil Ressourcen nicht dort ankamen, wo sie hin sollten. Ich glaube, in den Geschichten kam öfter das Wort „Chaos“ vor. Jedenfalls klappte bei mir auf dem Hinflug alles, ich ging ich von Bord und zog guter Dinge zur Underground (der Piccadilly Line Richtung – Achtung! – Cockfosters) weiter. Das Ticket hatte Hartmut mir schon vorher im Internet bestellt und schicken lassen. Noch eine Seite, die ich an ihm großartig finde: Er denkt praktisch und erkennt immer wieder Details, die mir in meiner Impulsivität entgehen.

Die Bahn machte auf dem Weg zum ersten Halt einen solchen Krach, dass ich Ohrstöpsel brauchte. „Guter Start“, dachte ich. Als die Bahn streckenweise den Tunnel verließ, sah ich, dass es regnete. Wie erwartet also, nach der Wettervorhersage, auch wenn für Samstag heiter bis wolkig mit sonnigen Abschnitten Trumpf war. Trotz Regens besah ich mir die Gegend, durch die wir fuhren, las nicht weiter in meinem Buch. Die Fahrt dauerte etwa 50 Minuten bis Leicester Square, wo Hartmut mich abholen wollte

Wir gingen dann mit ein paar Umwegen frühstücken im The Breakfast Club in Soho, einem gemütlichen Café mit gelben Wänden, Holztischen, leckerem Essen und freundlicher Bedienung. Dort trafen wir auch direkt Hartmuts Freund, bei dem wir übernachten würden, und ein paar weitere Freunde. Ein toller Start ins Wochenende und natürlich mein drittes Frühstück. Aber ich war ja auch schon sechs Stunden auf den Beinen.

Beim Herumlaufen in der Stadt fiel mir etwas auf, wozu ich mir vorher keine Gedanken gemacht hatte. In England fahren die Autos ja, wie jeder weiß, auf der linken Straßenseite. Was das praktisch heißt, hatte ich aber nicht bedacht. Denn das ist nicht nur für Autofahrer und Fahrradfahrer vom Kontinent eine Umstellung, sondern auch für Fußgänger. In den zwei Tagen, die ich dort verbrachte, rätselte ich unzählige Male, wieso sich Autos ohne Fahrer von selbst bewegten (hatte nicht auf den Beifahrer geachtet), schaute vor dem Überqueren von Straßen ständig in die falsche Richtung und schätzte die Zeit zum Erreichen der anderen Straßenseite falsch ein. Londons Regierung ist sich des Problems aber bewusst und hat deshalb aus grenzenloser Fürsorge im Zentrum an den Übergängen von Fußweg zu Straße mit weißer Farbe „LOOK LEFT“ oder „LOOK RIGHT“ hinschreiben lassen. Und das kann man wirklich gut gebrauchen. Zu allem Überfluss gibt es dort nämlich natürlich eine Menge Einbahnstraßen, deren System man bei der ganzen Verwirrtheit nicht auch noch oben drauf gebrauchen kann. Es ist ein dauernder Gehirnfick, dem man dort ausgeliefert ist. Ein Glück für mich, dass Hartmut schon mal eineinhalb Jahre in London gelebt hatte und sich noch ganz gut auskannte.

Ach so, noch was:
Ich war verschiedentlich gewarnt worden, wie teuer London sei, und das völlig zu Recht. Wer sich die Preise in London ausgedacht hat, braucht Schläge auf den Hinterkopf. Da kann man für eine 60- bis 70-Quadratmeterwohnung monatlich locker 1.500 Pfund auf den Tisch legen, was bei dem gerade relativ starken Eurokurs immer noch gut und gern 2.000 Euro sind. Aber die geisteskranken Preise herrschen in London überall, nicht wie in München nur bei den Mieten. In London zahlt man für ein Pint (irgendwas zwischen 400 und 500 ml) Bier in mancher „stylischen“ Lokalität schon mal seine 3,50 Pfund, und Essen im Restaurant oberhalb der Economy-Grenze leistet sich vor allem derjenige, den Geld langweilt. Wenn man ausgeht, ist grob gesagt alles eineinhalbmal so teuer wie in Deutschland.

Den Rest des dann doch noch herrlich warmen und sommerlichen Tages verbrachten wir mit Shopping und Stadterkundung. Es war an diesem Tag „CSD“ in London (außer Deutschen kennt ja keiner diesen Ausdruck; im Englischen nennt das jeder „Pride“), aber wir warteten die Parade nicht ab, sondern wühlten uns durch die prall gefüllte Innenstadt, bis wir müde wurden und zu Hartmuts Freund fuhren, der eine sehr schöne Wohnung in den Docklands hatte. Abends trafen wir uns dann zum Essen mit Freunden in einem thailändischen Restaurant, das einen Eindruck von Karibik vermittelte. Die Thaibande war auffällig stark daran interessiert, dass man ginge, wenn man fertig war, aber das Essen war gut. Nach diesem Abstecher waren wir dann aber auch so vollgefressen, dass Hartmut und ich wieder „nach Hause“ fuhren.

Der Sonntag brachte nicht nur schlechteres Wetter als der Samstag, sondern vor allem Hartmuts Geburtstag. Seine Geschenke hatte ich aber nicht mitgebracht, sondern ihm entweder schon gegeben oder in seiner Wohnung in Berlin versteckt, damit ich sie nicht durch die Weltgeschichte fliegen musste. So startete der Tag aber ohne große Überraschung für ihn, was ihm aber auch recht zu sein schien.

Jedenfalls machte der Spaziergang zum Observatorium in Greenwich wegen des Wetters keinen gesteigerten Spaß, auch wenn der Weg durch den Tunnel unter der Themse und die Aussicht vom Observatoriumshügel faszinierend waren. Wir waren am Abend vorher nicht lang wach gewesen und hatten nicht groß gefeiert, waren aber trotzdem ziemlich kaputt und hätten bei unserem Besuch im „First Out“-Café fast beschlossen, wieder „nach Hause“ zu gehen. Um vier Uhr nachmittags. Das taten wir dann aber doch nicht, sondern spazierten noch eine Weile durch die Gegend und aßen, wie schon lang geplant, bei Wagamama zu Abend. Vom Essen im Ansatz vergleichbar mit dem in der Roten Laterne/Konkubine in Düsseldorf, aber viel stärker auf Kantinendurchlauf gedrillt und – natürlich, obwohl auf unteres Preissegment gezogen – eine Ecke teurer.

Am Montag machte Hartmut selbst ein leckeres Frühstück, und dann fuhren wir mit meinem Gepäck wieder ins Zentrum, um noch ein paar Sachen zu sehen, bevor ich zurückfliegen müsste. Er hatte seinen Flug nach Berlin erst am Dienstag und deshalb noch Zeit.

Ich hatte eigentlich nur zum Spaß gesagt, dass ich mal zu Abercrombie & Fitch wollte, aber er führte mich dann tatsächlich dorthin. Das ist ein amerikanischer Klamottenladen, den man mit Fug und Recht als den Laden für Schwule bezeichnen kann. Das Gebäude in der Nähe der Regent Street sah von außen völlig unscheinbar aus. Nur ein Schriftzug auf den Fensterscheiben der zweiflügligen Eingangstür wies auf den Laden hin, keine weiteren Schilder. Als wir vorbeigingen, öffneten zwei junge Männer aus einem Modelkatalog die Türflügel und gaben Sicht frei auf einen dritten, der oben ohne mitten in einem Spotlicht stand, ein kräftiger trainierter Oberkörper und vermutlich ein weicher Keks obendrauf. Wir hätten da eigentlich schon schalten müssen.

Wir dachten uns aber nichts Böses und traten ein.

Das Innere des Gebäudes präsentierte uns eine feurige Mischung aus Nachtclub, Kunstausstellung und Geisterbahn. House-Musik stampfte in deutlich mehr als Zimmerlautstärke, und es gab keine Oberbeleuchtung, weswegen ich nur ahnen konnte, dass die Decken mindestens acht Meter hoch waren. Obwohl die Akustik verlautbarte, dass das Gebäude im Kern aus nur einem großen Raum bestand, wurden wir durch Segmente geführt, die durch gigantische Regalwände den Weg wiesen. Die Regale hatten alle die gleichen quadratischen Innenräume, und das einzige Licht kam von ihrer Innenbeleuchtung. So wanderten wir einerseits tagblind, andererseits von den hellen Regalspots geblendet durch die Räume, und in jedem befand sich nur eine Art von Kleidungsstücken, pedantisch angeordnet in immer den gleichen Regalen, sauber nach Farben sortiert und jede Farbe in einer Regalspalte vom Boden bis zur Decke eingeordnet; meterhoch bis zur Decke. Und in jedem Segmente begrüßte einen ein weiteres Model aus dem Katalog mit einem hippen coolen Spruch. Es war gespenstisch.

Wir waren schnell wieder draußen, schon wegen meiner akuten Angst, von weiteren Zombies angesprochen zu werden. Ich bin weiß Gott kein kontaktscheuer Mensch, aber das war mir deutlich zu viel. Aber wahrscheinlich soll der Londoner Store nichts verkaufen, sondern nur Leute wie mich dazu bringen, davon zu berichten, wie cool der Laden ist. Ist er auch, als Ausstellungsfläche. Als Laden zum Verkaufen eignet er sich wohl nur bei sehr jungen Schwulen, die gern mal „coole Boys“ sehen wollen, oder wie man das heute unter Jungtunten nennt.

Die Zeit lief aus. Wir aßen noch etwas in einem Pret à Manger, und nach ein bisschen weiterer Herumstreunerei machte ich mich dann mit der Piccadilly Line wieder auf den Weg zum Flughafen. Hartmut hörte beim Verabschieden gar nicht mehr auf, wie eine mechanische Figur zu grinsen und zu winken.

Der Weg zum Flughafen war unauffällig, aber der Rückflug sollte noch ein paar Überraschungen im Ärmel haben. Zuerst kannte das Check-in-Terminal meine Buchungsnummer nicht, also zum Schalter. Bei der Security wollte man jetzt doch mein Gleitgel sehen, nahm aber davon keine weitere Notiz, und es fiel den Heinzen auch nicht auf, dass ich das Gleitgel aus einem auf dem Pride-Event abgegriffenen Cruising Pack (Kondom plus Gleitgelpäckchen) vergessen hatte.

Verspätung von 20 Minuten war angesagt; Flugzeug war zu spät reingekommen. Wir konnten aber dann doch einigermaßen rechtzeitig boarden.

Und dann ging’s los.

Mindestens eine halbe Stunde hatten wir in unseren Sitzen verharrt, als der Pilot sich meldete. Es hatte zwischenzeitlich zu schütten begonnen. Wir könnten noch nicht starten, weil wegen des schlechten Wetters die Abflugintervalle auf sechs Minuten erhöht worden wären, sagte er. Außerdem müssten Flugzeuge zum einen oder anderen Ende der Starbahnen, je nach Windrichtung. Wir müssten uns anstellen, wo es derzeit richtig aussähe. Das taten wir also. Das dauerte noch einmal etwa eine Stunde. Voller Häme lachten wir eine American Airlines-Maschine aus, als sich herausstellte, dass die sich wegen gedrehten Windes am falschen Ende angestellt hatte und jetzt zur Warteschlange ans andere Ende musste. Als wir fast an der Reihe mit Take-off waren, kam dann die nächste Durchsage vom Piloten: „Meine Damen und Herren, es tut mir leid, Ihnen das nach der ganzen Wartezeit sagen zu müssen, aber durch genau diese Wartezeit ist uns jetzt der Treibstoff für den Flug nach Düsseldorf ausgegangen. Wir müssen zurück zum Gate und wieder auftanken.“ Natürlich ging ein Raunen durch die Reihen, aber es verhältnismäßig ruhig und höflich, eher ein „tsetsetse“.

Wir rollten also zurück. Wegen des schlechten Wetters hatten aber auch andere Flugzeuge diese Idee gehabt, sodass wir eine weitere halbe Stunde warten mussten, bis wir betankt werden konnten. Das passierte schließlich aber doch noch. Voller Freude vernahmen wir die dann folgende Durchsage des Piloten: „Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen vielmals für Ihre Geduld in dieser frustrierenden Situation, muss Ihnen aber leider mitteilen, dass wir durch die ganze verstrichene Zeit jetzt die Arbeitszeiten unseres Bordpersonals überschritten haben.“ [Diesmal ein deutliches Raunen in der Menge] „Die Herrschaften haben heute Morgen um 7 Uhr mit ihrer Schicht begonnen. Wir müssen das Bordpersonal leider wechseln. Drei neue Crewmitglieder sind gerufen.“

Eine weitere starke halbe Stunde passierte nichts. Nach etwa 40 Minuten dann die nächste Durchsage: „Meine Damen und Herren, ich weiß, wie frustrierend das ist, aber wir können unsere Crewmitglieder nicht finden. Wir wissen nicht, warum sie nicht hier oder wo sie abgeblieben sind. Wir schicken jetzt ein weiteres Mitglied, um noch ein paar zu holen.“ Ich schwöre, es klang wirklich, als hätte man Fritzchen geschickt, um noch ein paar Äpfel im Garten zu pflücken.

Nach noch einmal einer starken Viertelstunde kamen dann tatsächlich drei weitere Crewmitglieder, und ein freudiges Klatschen und Rufen ging durch die Menge. Sie waren tatsächlich noch aufgetaucht. Obwohl ich direkt neben zwei der „alten“ Flugbegleiter stand, als Alt und Neu einander begegneten, konnte ich nicht erfassen, warum das so lang gedauert hatte.

Der Flug selbst ging dann zackig, und auch die Landung in Düsseldorf war unauffällig. Auffällig – auffällig klein nämlich – war dagegen der Hähnchen-Wrap, der uns dann als Snack serviert wurde. Es hatte natürlich niemand damit gerechnet, dass wir zur Zeit des Servierens vier Stunden Verspätung und Bärenhunger haben würden. Mein Magen empfand diese winzige Portion als Affront.

Mit vier Stunden Verspätung kam ich also in Düsseldorf am Flughafen an, nahm dann noch den Bus nach Hause und ließ nur meine Sachen fallen, bevor ich ins Bett fiel.