Mittwoch, August 22, 2007

"Hier mal die Obdachlosenzeitung"

In meiner Mittagspause schlendere ich oft am Haupteingang der nahe gelegenen Hertie-Filiale vorbei. Dort steht fast immer ein Mann mit leeren Augen und einer Zeitung im Hochformat in der Hand. Er versucht, die Essener Obdachlosenzeitung zu verkaufen. Mit quarzgesteuerter Präzision sagt er im Zehn-Sekunden-Abstand:

"Hier mal die Obdachlosenzeitung."

Dabei sind die Wörter "Hier mal" fast bis zur Unverständlichkeit zernuschelt, als könne er seinen Mund nur schwerlich davon überzeugen, den Satz noch einmal zu sprechen, und zum Ende des Satzes hebt er die Stimme, um ihn zur Frage nach Verkaufswillen der Hörer zu erheben. Er muss diese Worte schon so oft gesagt haben, und merklich hörbar ist jede Spur von Enthusiasmus aus ihm gewichen. "Hier mal die Obdachlosenzeitung, hier mal die Obdachlosenzeitung." Als hohles körperliches Werkzeug spricht er sie wie ein Mantra ohne Verbindung zu seinem Verkaufsprodukt, ohne Ziel, ohne Seele, ohne Hoffnung.

Ich habe ihn noch nie ein einzelnes Exemplar verkaufen sehen, was daran liegen mag, dass ich ihn nie länger beobachtet habe, sondern aus persönlicher Berührung immer vorbeigegangen bin.

Dass sich Obdachlosenzeitungen schlecht verkaufen, hat einen Grund. Einen guten sogar, wie ich finde. Sie sind das Kind von Beschäftigungstherapie und meist nicht nur grottenschlecht geschrieben und aufgemacht, sodass sogar mir als Farbenblindem bei diesem Schwarzweißdruck die Augen brennen, sondern auch zum Sterben langweilig. Die dort behandelten Themen beinhalten fast immer eine Grundkritik an "der Politik", ein Interview mit einem damit Befassten, dem dann grauenvoll uninteressante Fragen zum Thema Obdachlosigkeit gestellt werden, zu denen er manchmal nichts Vernünftiges beitragen kann, und allerlei Terminsankündigungen, die mich etwa so sehr interessieren wie die Kelly Family, allerdings ohne deren Frisurenbelustigungsaspekt.

Nach anfänglichem soziologischem Interesse habe ich aufgehört, Obdachlosenzeitungen zu kaufen. Nicht nur, aber auch, weil mir das Geld zu schade ist, sondern vor allem, weil die kreativen Obdachlosen sonst das Gefühl hätten, dass mit an der Zielgruppe völlig vorbei produzierter Ware Geld zu verdienen ist. Das wäre in etwa so, als würden die A3-Berufspendelfahrer eine eigene Zeitung herausgeben und erwarten, damit auf dem Ku'damm in Berlin den großen Durchbruch zu machen. Die müssen irgendwann mal begreifen, dass sie, wenn sie was tun wollen -- was ich stark befürworte --, sich etwas vornehmen müssen, das man auch kaufen will. Sonst ist das alles nicht mehr als müde Almosen.

Aber man kann natürlich auch Scheiß produzieren und sich dann, wenn's niemand kauft, darüber beschweren, wie unsozial alle sind. Das habe ich zugegebenermaßen bislang niemanden von ihnen sagen hören, aber ich habe auch nie jemanden danach gefragt.
Vielleicht haben die Jungs aber auch die Hoffnung schon lang aufgegeben.

So steht jedenfalls der Mann mit dem müden Mund jeden Tag bei Hertie und spricht dieses Mantra, immer und immer wieder.
Manchmal frage ich mich, wo er sich in zehn Jahren sieht. Und dann wird mir klar, warum er müde ist.

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